Das zufällige und eher flüchtige Scrollen meiner Twittertimeline am späten Sonntagvormittag führte mich heute mitten in eine spannende Diskussion rund um das Thema „Livestreaming“. Das Barcamp Rhein-Main wird – wie auch schon in den vergangenen Jahren – zum Teil live gestreamt und zwar jeweils eine Session von insgesamt wohl sechs gleichzeitig stattfindenden Sessions. Auf den ersten Blick eine gute Idee, auf den zweiten Blick …..? Und so sprach mir eine skeptische Antwort auf eine eher enthusiastische Ankündigung aus der Seele und führte mich dazu, mitzudiskutieren.
Auf den ersten Blick …..
…. ist es natürlich toll, wenn man auch aus der Ferne spannende Sessions bei einem Barcamp mitverfolgen kann. Das habe ich – gerade beim Barcamp Rhein-Main – sogar schon einmal gemacht. 2013 konnte ich nicht persönlich teilnehmen, über das Livestreaming konnte ich die Session von Thomas Zimmerling zum „Social Storm“ verfolgen. Diese wirklich gute Session ist auch nach wie vor online. Also eigentlich alles ganz wunderbar, oder? Nein, denn …..
Auf den zweiten Blick ….
…. spüre ich ein „gewisses Unbehagen“. Es ist eine Sache, daß ich als (ferne) Nutzerin davon profitiere, Veranstaltungen aus der Ferne live zu verfolgen. Als Anwesende vor Ort stellt sich die Situation für mich anders dar. Viele der richtig guten Barcamp-Sessions leben davon, daß eine offene Diskussion mit (zum Teil auch sehr persönlichen) Erfahrungen der einzelnen Teilnehmer stattfindet. Kann da, wo eine Kamera alles aufzeichnet, live streamt und dauerhaft bewahrt, eine solche offene Diskussion noch möglich sein? Reicht es aus, daß die Teilnehmer wissen, daß die Session gestreamt/aufgezeichnet wird? Oder beeinflußt dieses Wissen die Entscheidung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, ob sie die Session besuchen und ob sie wirklich mitdiskutieren? Was geht uns möglicherweise vor Ort verloren, weil wir Gesprächsräume „unkontrolliert“ nach außen öffnen?
Vor Ort gibt es natürlich unterschiedliche Perspektiven und Interessen. Es gibt die Perspektive der Veranstalter, die natürlich – immer wieder – das Finanzierungsproblem haben. Führt Livestreaming (beziehungsweise die damit verbundene „Reichweite“) tatsächlich zu höheren Sponsoringeinnahmen?
Dann gibt es noch die Perspektive der Sessiongeber. Für einige mag Livestreaming durchaus ein (Selbst-) Marketingvorteil sein, für andere paßt es vielleicht nicht zum geplanten Inhalt.
Schließlich gibt es noch die Perspektive der Sessionteilnehmer – inwieweit beeinflußt Streaming deren Bereitschaft, aktiv (also mit Fragen und Äußerungen) an einer Session teilzunehmen?
Meine eigene Perspektive
Aus eigener Erfahrung kenne ich die Perspektiven als (aktive und passive) Sessionteilnehmerin und als Sessiongeberin. Als Sessionteilnehmerin weiß ich „vorher“ natürlich nicht, ob beziehungsweise wie ich mich inhaltlich beteiligen werde. Oft besuche ich Sessions, deren Thema ich spannend finde – gerade weil ich mich mit einem Thema noch gar nicht oder nur wenig beschäftigt habe. Je weniger ich über ein Thema weiß, desto schwieriger ist natürlich eine aktive Diskussionsteilnahme im Rahmen der Session, trotzdem besteht natürlich die Möglichkeit Fragen zu stellen – zum Beispiel zu benutzten Begriffen oder Hinweisen zur Vertiefung. In der Regel twittere ich aus den von mir besuchten Sessions – mich ansprechende Inhalte der Sessions, Fragen der anderen Teilnehmer, die das Thema für mich vertiefen oder andere Aspekte aufwerfen, Fragen und Verbindungen zu anderen Themen, dir mir plötzlich einfallen – oft entsteht so ein Gespräch mit fernen (und mir zum Teil sogar unbekannten) Twitternutzern.
Als Sessiongeberin nutze ich Barcamps gelegentlich, um neue Themen und/oder neue Methoden auszuprobieren. Das Gespräch – der offene Austausch – steht für mich bei meinen Sessions im Vordergrund. Es muß allen Teilnehmern möglich sein, (vermeintlich „dumme“) Fragen zu stellen, eigene Erfahrungen zu berichten und von den den Fragen und Anmerkungen der anderen zu lernen. Dafür brauche ich eine Art geschützten Raum. Es geht nicht darum, daß niemand über die Session berichtet, sondern eher darum, daß für eine kurze Zeit die gemeinsame Arbeit an einem Thema/das gemeinsame Nachdenken über eine Frage im Vordergrund steht. Livestreaming würde diese „Illusion“ des geschützten Raums zerstören und mit der Dauerhaftigkeit des Abrufs durch den gespeicherten Stream gerade auch die Leichtigkeit und Flüchtigkeit der Gespräche stören.
Mehr Flüchtigkeit!
Bei „Flüchtigkeit“ denkt man natürlich schnell an fehlende Aufmerksamkeit, an „Flüchtigkeitsfehler“. Der Duden führt als Synonyme für „Flüchtigkeit“ jedoch auch Kurzlebigkeit und Vergänglichkeit an. Nicht alles, was speicherbar ist, muß auch gespeichert werden. Für mich besteht der wesentliche Teil eines „guten“ Barcamps aus Gesprächen – aus den Gesprächen in den Sessions, aus den Gesprächen in den Pausen und am Abend und aus den Gesprächen über Twitter. Diese Gespräche „speichere“ ich in meinem Kopf und meinem Herzen, ich brauche für diese Gespräche keinen externen technischen Speicher, weil diese Gespräche in ihrer Einzigartigkeit aus der jeweiligen Situation flüchtig entstehen – eine zufällige Begegnung an der Kaffeemaschine, ein Stichwort auf dem Flur, eine Frage in der Session. Livestreaming und Aufzeichnung nehmen den Gesprächen diese Leichtigkeit und Flüchtigkeit, die auch das Ausprobieren provozierender Thesen und „brisanter“ Äußerungen erlaubt, die gut zur Atmosphäre vor Ort passen, aber von fernen „Zuschauern“ gar nicht nachvollzogen werden können und ihren Kontext verlieren.
Mein Fazit
Ich möchte das Livestreaming keinesfalls „verteufeln“, ich persönlich glaube aber nicht, daß es für ein Barcamp „gut“ ist. Meine Diskussionsfreude ist bei gestreamten Sessions deutlich gedämpft, ich selber möchte meine Sessions auch nicht zum Livestreaming anbieten, weil mir der echte offene Austausch wichtiger ist als die mögliche Reichweite.
Vermutlich habe ich jetzt viele wichtige Aspekte ausgelassen, aber es wird sicherlich noch andere Beiträge zu diesem Thema geben.
Herzlichen Dank jedenfalls für die spannende Twitterdiskussion an Sascha Hüsing, Sebastian Greiner (der hinter @LivestreamFfm steckt) und Jan Theofel.