Gestern, als ich gegen Abend einen kurzen Spaziergang machte, trat plötzlich ein Fuchs auf mich zu. Ich erschrak natürlich, doch er sagte sofort „Keine Angst, ich möchte Dir nur eine Geschichte erzählen.“ Es war eine unglaubliche Geschichte und deshalb schreibe ich sie auf, solange sie mir noch gut im Gedächtnis ist.
Eines Tages wollten die Tiere ein neues Obertier wählen. Der Bär, der schon lange das Obertier gewesen war, trat natürlich wieder zur Wahl an. Als großes und starkes Tier – so fand er – gebührte ihm die Wiederwahl. Aber was ist eine Wahl ohne Gegner? Das Wiesel, das schon länger im Rat der Tiere gemeinsam mit dem Bären gearbeitet hatte, trat ebenfalls zur Wahl des Obertieres an.
Zunächst konnten sich die Tiere nicht so richtig entscheiden, ob sie lieber den Bären oder das Wiesel als Obertier wählen wollten. Eine Stichwahl mußte her.
Nur wenige Tiere zeigten wirklich Interesse an der Wahl. Viele waren gelangweilt, resigniert und lustlos. Der Hund, der auf der Bühne des Waldes, das zweite Tier der bremisch-stadtmusikalischen Vereinigung war, hatte jedoch eine deutliche Meinung zu dieser Wahl. Damit möglichst viele Tiere diese Meinung mitbekamen ritzte er in seinen Baum – an dem immer viele Tiere vorbeikamen – eine deutliche Botschaft. Er warf (in derber Sprache) dem Bären den Winterschlaf und seine Liebe zu Honig vor, lobte die Flinkheit und Energie des Wiesels und sagte ihm eine glänzende Zukunft voraus, wenn es sich nur deutlich genug vom Bären fernhalten würde. Einige Tiere vernahmen die Botschaft, auch der Bär.
Der Bär war verletzt, sehr verletzt. Das war einerseits verständlich – denn wer wollte schon ein Wiesel als Obertier bevorzugen, wenn man einen großen und starken Bären haben konnte; andererseits war es nicht verständlich – konnte denn ein großer und stärker Bär Angst vor einem Wiesel und der Äußerung eines Hundes haben?
Vielleicht hätten Bär, Wiesel und Hund diese Frage – wie andernorts schon erprobt* – in einem Gesangswettwerb geklärt. Aber die Zeit war knapp, der Honig vielleicht auch und der Bär schon leicht ungeduldig. So schickte er dem Hund und der bremisch-stadtmusikalischen Vereinigung nur eine kurze Botschaft, in der er sein Mißfallen an den Baumkritzeleien des Hundes ausdrückte.
Vermutlich war der Bär schon damit zufrieden, daß er überhaupt etwas unternommen und damit seine Größe und Stärke gezeigt hatte, vielleicht ging der Bär auch davon aus, daß der Hund seine Baumkritzeleien schnell entfernen oder zumindest ändern würde. Wir wissen es nicht.
Die Sperlinge pfiffen es von den Dächern als die bremisch-stadtmusikalische Vereinigung – vertreten durch ihr Obertier, die Katze – sich auch noch äußerte. Hund und Katze halt – das ist halt immer ein ergiebiges Thema und man ahnt schon, daß die Äußerung für den Hund nicht besonders angenehm ausfiel. Die Katze forderte vom Hund Neutralität und Pfotengefühl. Als zweites Tier der bremisch-stadtmusikalischen Vereinigung sei er dazu verpflichtet. Der Hund war erbost und berief sich auf die Verfassung der Tiere, die auch ihm ein Recht gibt, seine Meinung in seinen Baum zu ritzen. Auch dies ritzte er natürlich in seinen Baum.
Die Sperlinge hatten viel zu pfeifen in diesen Tagen und waren am Abend sicherlich rechtschaffen müde. Die Tiere waren mittlerweile ermüdet und während Bär und Wiesel sich um die Wahl des Obertiers kümmerten, waren auch Hund und Katze „gut“ beschäftigt.
Der Fuchs lief schweigend neben mir her. Und – fragte ich – wer hat die Wahl des Obertiers gewonnen? Das ist nicht die richtige Frage antwortete der Fuchs. Wichtiger ist eigentlich, ob es irgendjemanden gibt, der nicht verloren hat. Während ich noch über diese Antwort nachdachte, verschwand der Fuchs im Wald. Unter dem nächsten Baum fand ich ein aufgeschlagenes Büchlein – ganz dick stand dort „Meinungsfreiheit“.
* Jorge Bucay: Gesangswettbewerb