Gestern habe ich das Buch „Miese Stimmung“ (Untertitel: Eine Streitschrift gegen positives Denken) von Arnold Retzer zuende gelesen. Ich hatte das Buch vor ein paar Jahren schon einmal angefangen, aber nie zuende gelesen. Gerade in Zusammenhang mit meinem letzten Beitrag in diesem Blog und dem Thema „Hoffnungslosigkeit“ war das Buch sehr passend – es hätte keinen besseren Zeitpunkt für die Lektüre dieses Buches geben können. Ich möchte hier ein paar erste Gedanken festhalten.
Der Gedanke der Ambivalenz
Ich mag den Gedanken der Ambivalenz – also die Tatsache, daß etwas gleichzeitig gut und schlecht sein kann, bitter und süß, halt doppeldeutig. Dieser Gedanke kommt auch wunderbar in dem Buch „111 Tugenden, 111 Laster“ (Untertitel: Eine philosophische Revue) von Martin Seel zum Ausdruck.
Wenn Hoffnung die „positive Seite“ ist, was ist dann die negative Seite? Hoffnungslosigkeit oder Realismus? Retzer bezeichnet Hoffnung an einer Stelle als Informationsignoranz, Seel unterscheidet zwischen begründeter Hoffnung und blinder Hoffnung.
Ich selbst habe mir – bevor ich das Buch von Retzer gelesen habe – ganz deutlich die Frage gestellt, wann und wie „Hoffnungslosigkeit“ sich in den letzten Jahren in meinem Leben ausgewirkt hat. Erstaunlicherweise habe ich mich sofort an zwei Situationen erinnert, die – über die Jahre hinweg – eng miteinander verbunden sind.
Rückblick 1: Februar 2018
Es ist der Abend der Erinnerungsveranstaltung der Organisation, die meine Mutter im November 2017 ein paar Tage lang palliativ zuhause betreut und begleitet hat. Es ist ein gutes Gefühl, dort hinzugehen. Nach der eigentlichen Veranstaltung, die sehr schön gestaltet ist und die natürlich auch noch einmal ein paar Tränen mit sich bringt, spreche ich länger mit einer der betreuenden Schwestern. Als ich ihr erzähle, daß mir das Sterben meiner Mutter im August bewußt geworden ist und ich sie bewußt bis zum Ende begleitet habe, sagt sie mir, daß das eher selten ist.
Ich frage mich im Anschluß an das Gespräch, warum ich das tatsächlich gemerkt habe und kann es mir nicht erklären.
Rückblick 2: Juli 2012
Meine Mutter hat gerade die Diagnose Krebs (genauer metastasierter Brustkrebs) erhalten. Ich begleite sie zu den wichtigen Gesprächen. Ich bestelle mir Bücher zum Thema, informiere mich umfassend, lese in den entsprechenden Foren viele Erfahrungsberichte – gerade auch die Berichte von Menschen, die schon verstorben sind oder im letzten Stadium der Krankheit sind. Ich weiß, daß meine Mutter nie mehr gesund werden wird und daß es nur darum geht, die verbleibende Lebenszeit „gut“ – also mit hoher Lebensqualität zu verbringen.
Mit dem Wissen von heute…..
Mit dem Wissen von heute kann ich sagen, daß ich damals „hoffnungslos“ war. Ich habe nie auf Heilung gehofft oder auf ein Wunder. Ich wußte immer, daß eine schwierige Zeit kommen wird – ich hatte allerdings viel früher mit dieser schwierigen Zeit gerechnet. Jedes schöne Jahr war ein Geschenk, jeder gute Moment wurde zu einer wunderbaren Erinnerung. Im Wissen um die irgendwann kommende schwierige Zeit habe ich meine Mutter gebeten, mir mit einem gemeinsamen Urlaub eine schöne Erinnerung zu schenken (wir haben immer sehr offen über den Tod gesprochen!). Im Juni 2016 hat sie mir diese schöne Erinnerung geschenkt – ich war also irgendwie „vorgewarnt“. Die realistische Einschätzung hat mir die Kraft und den Mut gegeben, meine Mutter durch die Zeit der Krankheit und durch ihr Sterben zu begleiten. Und gerade weil ich nicht gehofft habe, konnte ich die Zeichen der Veränderung wahrnehmen, die sich im Sommer 2017 eingeschlichen haben.
Gut oder schlecht?
War das jetzt gut oder schlecht? Darauf gibt es vermutlich keine allgemein richtige Antwort. Ich kann es durchaus verstehen, wenn jemand in einer vergleichbaren Situation bis zum Ende die Hoffnung auf Heilung oder gar auf ein Wunder hat. Ich würde auch niemandem die Hoffnung nehmen wollen. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich bei Antworten an Betroffene (Kranke oder Angehörige) stark zurückhalte. Mein Weg war für mich richtig, für andere Menschen kann er grundfalsch sein. Es ist diese Polarität, die mir durch das Lesen des Buches noch einmal sehr deutlich geworden ist. Menschen müssen mit ihrem Schicksal umgehen, sie müssen Dinge hinnehmen, die sie „nicht verdient“ haben, die „ungerecht“ sind. Ein standardisiertes „Du mußt hoffen“, „die Krankheit hat ihren Sinn“ oder „Du mußt kämpfen“ (gerade im Angesicht von Krankheiten) empfinde ich persönlich weder als hilfreich noch als passend. Und wenn man den Kampf verliert? Ist man dann schuld, weil man nicht genug gehofft oder gekämpft hat? Darf man den „Kampf“ oder die „Hoffnung“ aufgeben? Oder ist es so sehr Bestandteil unseres Menschen- und Gesellschaftsbildes geworden, daß der Kampf geführt werden muß, weil es ein guter Kampf ist?
Wo bleibt die Entscheidungsfreiheit?
Meine Mutter kam mit ihrem Onkologen sehr gut zurecht. Von manchen Patienten wurde er im Internet als wenig „empathisch“ geschildert, für meine Mutter war er genau richtig. Er hat sie nie bemitleidet, aber er hat sich immer gefreut, wenn es ihr gut ging oder wenn eine Behandlung anschlug. Am wichtigsten war aber: er hat meine Mutter immer entscheiden lassen. Ganz wörtlich! Ich erinnere mich an einige Gespräche bei denen ich dabei war. Wenn eine neue Behandlung notwendig war, dann haben wir einen Besprechungstermin gemacht. Er hat ein Mittel vorgeschlagen, durchaus mit dem Hinweis „wir könnten xxx versuchen“. Ich habe nach potentiellen Nebenwirkungen gefragt. Und dann hat er meine Mutter gefragt: Wollen Sie diese Chemo machen? Sie hätte jederzeit nein sagen können. Es gab nie die Pflicht zu hoffen oder zu kämpfen, es gab immer eine Wahl.
Das Ertragen der negativen Gefühle…..
Nicht alles in dieser Zeit war einfach, im Gegenteil. Meine Mutter hatte vor manchen Dingen Angst. Vor unserem ersten gemeinsamen Termin habe ich ihr eine Übung gegen Angst erzählt, die ich in einem der Krebsbücher gefunden hatte. Man sollte in Gedanken eine Treppe hochgehen, jede Stufe zählen und dann dann abwärts zählend wieder heruntergehen. Es war ein kleines Gespräch am Rande, eine Information, die sich auch einfach ignorieren konnte. Ich habe nie nachgefragt. Über ein Jahr später hörte ich, wie sie in einem Telefongespräch einer Bekannten von dieser Übung erzählte und wie sehr ihr diese Übung geholfen hatte.
Auch ich hatte immer mal wieder Angst, Angst vor den Nebenwirkungen der Chemos, Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung, Angst vor dem, was irgendwann kommen würde. Zu wissen, was kommen kann, macht vieles nicht einfacher. Unwissenheit kann durchaus eine Gnade sein, Nichtinformation stand für mich persönlich aber nie zur Wahl. Gerade mit meiner Entscheidung für das Höchstmaß an Wissen konnte ich meine Mutter bei dem Ziel „Lebensqualität“ gut begleiten. Letztlich habe ich im Rückblick das Gefühl, daß ich die Herausforderungen dieser Zeit – trotz oder gerade wegen des Zulassens der negativen Gefühle von Angst und Traurigkeit – gut gemeistert habe. Es war eine sehr intensive Zeit, zu der neben vielen sehr schönen Erlebnissen auch die angstvollen und traurigen Zeiten gehören.
Hoffnungslos oder realistisch?
Vieles, was ich einfach nur als realistisch einschätze, hört sich für andere Menschen „hoffnungslos“ an. In der unterschiedlichen Bezeichnung steckt sehr viel stärker eine Bewertung der zugrundeliegenden Haltung als ein inhaltlicher Unterschied. Ja, ich war und bin in vielen Dingen „hoffnungslos“. Ich habe diesen Begriff auch selber verwendet. Für mich fühlt es sich falsch an, für mich selbst auf etwas zu hoffen, daß realistisch gar nicht eintreten kann. Der (durchaus radikale) Verzicht auf Hoffnung erlaubt den Abschied von Menschen aber auch von Vorstellungen und Bildern, die man sich von sich selbst und seiner Zukunft gemacht hat. Es erlaubt das aktive Trauern und nach Abschluß der Trauerphase auch die Veränderung, die Schaffung neuer Bilder und Vorstellungen von einem selbst und von der Zukunft. Aber dazu werde ich vielleicht noch einmal separat etwas schreiben……