Es gibt Momente, in denen mir Geschichte greifbarer und näher erscheint, als zu anderen Zeiten. Heute (17. Juni 2014) ist für mich so ein Tag. Es ist aber auch ein Tag, der mich nachdenklich macht. In Gedanken schlage ich einen Bogen von Mai 1949 über Juni 1953, Sommer und Herbst 1989 bis zum heutigen Tag.
Mai 1949: das Grundgesetz wird verkündet
Vor etwas mehr als 65 Jahren – am 23. Mai 1949 – wurde das Grundgesetz verkündet, am 24. Mai 1949 trat es in Kraft. In relativ kurzer Zeit erarbeitete der Parlamentarische Rat damals den Text und traf damit grundlegende Entscheidungen für Westdeutschland. Die Geschichte der Entstehung des Grundgesetzes kann man hier gut nachlesen. Dabei sind drei Aspekte für mich besonders interessant:
– Teil des Auftrags, den die Westallierten erteilten, war es, eine Verfassung auszuarbeiten, die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten erhält (Seite 4 des oben verlinkten Dokumentes „Blickpunkt Bundestag Spezial/Seite 6 des pdf)
– über die Bedeutung und Notwendigkeit der 19 Grundrechte, die am Anfang des Grundgesetzes stehen, waren sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates ziemlich schnell einig (Seite 15 des oben verlinkten Dokumentes „Blickpunkt Bundestag Spezial/Seite 17 des pdf)
– die Arbeit des Parlamentarischen Rates stieß in der Öffentlichkeit auf wenig Interesse (Seite 17 des oben verlinkten Dokumentes „Blickpunkt Bundestag Spezial/Seite 19 des pdf)
Besonders bemerkenswert finde ich den sprachlich-diplomatischen Coup, das Arbeitsergebnis nicht Verfassung sondern „Grundgesetz“ zu nennen. Mit dieser Bezeichnung konnte es „losgehen“.
Juni 1953: der Volksaufstand in der DDR
1953: Nur wenige Jahre nach der Verkündung des Grundgesetzes ging es den Westdeutschen schon richtig gut. In Ostdeutschland schöpften die Menschen nach Stalins Tod Hoffnung. Doch ihre Hoffnungen erfüllten sich nicht. Am 17. Juni kam es zum Volksaufstand in der DDR statt. Die Forderungen der Menschen nach besseren Arbeitsbedingungen, Rücktritt der Regierung und freien Wahlen wurden blutig niedergeschlagen.
Auch in Westdeutschland hinterließ der Volksaufstand Spuren. Der Aufstand im Osten stieß in Westdeutschland auf breite Sympathie. Schon am 17. Juni gab es eine Solidaritätskundgebung in West-Berlin und in den folgenden Tagen auch in anderen westdeutschen Städten. Der Tag wurde zu einem nationalen Gedenktag und schließlich zu einem Feiertag – dem Tag der deutschen Einheit.
Der Feiertag am 17. Juni erinnerte immer wieder an den 17. Juni 1953, in Fernseh- und Zeitungsberichten bekamen auch die später Geborenen einen kleinen Einblick in das, was rund um diesen Tag in Ostdeutschland passierte und mit wieviel Mut und Hoffnung die Menschen auf die Straße gingen – auch wenn sich diese Hoffnungen damals nicht erfüllten.
1989: Wir sind das Volk
Erst vor ein paar Tagen wurde mir bewußt, daß es jetzt 25 Jahre her ist, daß die Mauer gefallen ist. Ich erinnere mich an Nachrichtenbilder mit Menschen in der überfüllten Prager Botschaft und an die Freude der Menschen, als der damalige Außenminister Genscher ihnen die Nachricht der Ausreise überbrachte. Vor allem aber erinnere ich mich an den so einfachen aber machtvollen Satz „Wir sind das Volk“. Es ist für mich immer noch unglaublich, wie schnell und friedlich die Mauer fiel. Das, was 1953 blutig endete, konnte 1989 friedlich und freudig erreicht werden. Ein Start in eine verheißungsvolle Zukunft für Ost- und Westdeutschland?
2014: Wir sind das überwachte Volk
Der rote Faden, der 1949, 1953 und 1989 verbindet, ist der Wunsch der Menschen nach guten Lebensbedingungen, Freiheit, Grundrechten und freien Wahlen. Gute Lebensbedingungen haben viele von uns sicher erreicht, wobei dies nicht heißt, daß es allen Menschen in Deutschland gut geht. Aber was ist mit unserer Freiheit und unseren Grundrechten? Seit letztem Jahr wissen wir, daß wir dauerhaft und grundlos überwacht werden. Egal ob wir soziale Netzwerke nutzen, im Internet surfen, telefonieren (oder demnächst auch Auto fahren), wir werden überwacht und das, ohne daß gegen uns ein Verdacht vorliegt. Aus dem kraftvollen Ruf „Wir sind das Volk“ ist die traurige Erkenntnis geworden „wir sind das überwachte Volk“. Aber: wollen wir das so stehenlassen?
Wollen wir das so stehenlassen?
Ja und nein.
Ja, denn wir sind im Moment das überwachte Volk. Die im Grundgesetz verankerten Grundrechte und die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Unschuldsvermutung bestehen zwar noch „auf dem Papier“, tatsächlich sind sie im Rahmen der vielfältigen Überwachungsaktivitäten blaß und inhaltsleer geworden. Die Trumpfkarte lautet immer wieder „Sicherheit“.
Nein, denn ich möchte das nicht so stehenlassen. Ich suche nach dem positiven Satz, der – wie damals 1989 – eine Wende in den Köpfen und Herzen der Menschen herbeiführt und sie gemeinsam für eine gute Zukunft arbeiten läßt.
Was wäre Ihr/Dein Satz für uns und unsere gemeinsame Zukunft?